Kaulitze im Kindergarden Von Susanne Amann, San Francisco
Scream!
Scream! Scream! Die Teenie-Band Tokio Hotel drängt auf den US-Markt,
tourt durchs Land - und beweist in einem legendären Club San Franciscos
vor allem eines: dass pubertäres Kreischen die einzig wahre Weltsprache
dieser Tage ist. Das Flair hat sich gehalten, aller Veränderung zum Trotz. Die Gegend
rund um die Fillmore Street Ecke Geary ist immer noch ein wenig
schäbig. Dunkle Hauseingänge wechseln sich ab mit kleinen
heruntergekommenen Läden, Neonreklamen bewerben Fastfood-Restaurants,
vor denen Obdachlose um ein paar Cent für ein Bier betteln. Über allem
leuchtet ein einsamer, gelber Schriftzug von dem Gebäude mit der Nummer
1805 - "Fillmore".
Hier, im legendären Fillmore Auditorium in San Francisco, wurde der
Blues wiederentdeckt. Hier haben die Großen gespielt: B.B. King, The
Who, Santana, Pink Floyd, Led Zeppelin, The Doors, Aretha Franklin und
viele mehr. Das allerdings ist lange vorbei, und jetzt treten hier jene
auf, die groß werden wollen.
Oder noch größer.
So wie Tokio Hotel, jene deutsche Teenie-Band aus der Nähe von
Magdeburg, die sich gerade anschickt, mit ihren ins Englisch
übersetzten Erfolgsmelodien die Herzen der US-Teenager zu erobern. Mit
eher schlichten Liedzeilen wie "Turn around, I am here" oder "We are
here tonight, leave the world aside" wollen sie Mädchen hier genauso
zum Kreischen bringen wie zu Hause.
Im Mai erreichte das erste englischsprachige Album "Scream" Platz fünf
der US-Rockcharts und brachte selbst das gediegene Musikmagazin
"Rolling Stone" ins Schwärmen: "Diese Typen sind die größte deutsche
Bubblegum-Neo-Glam-Goth-Emo-Boyband. Aller Zeiten." Das war nicht mal ironisch gemeint. Wirkliche Hilfe aber kam vom
Musiksender MTV, der nicht nur eine Fanwoche einlegte, sondern die
Hit-Single "Ready, set, go" auch gleich in zwei Kategorien für die MTV
Video Music Awards nominierte. Braucht man mehr, um Teenagerherzen
höher schlagen zu lassen?
Und so stehen die Fans an diesem Dienstagabend weit über die
nächsten Blocks hinaus in der Schlange, bis sie in kleinen Grüppchen
ins "Fillmore" gelassen werden, zum Konzert von Tokio Hotel.
Ganz vorne in der Reihe steht Cathleen, die seit einer Woche in
einem Hostel um die Ecke ausgeharrt hat, um einen der besten Plätze zu
ergattern. "Ich habe die Band im Internet zum ersten Mal gehört, da
wusste ich gar nicht, dass sie aus Deutschland kommt", sagt die
15-Jährige. Nachgelesen hat sie das dann bei Wikipedia - und die Jungs
umso mehr ins Herz geschlossen: "Dass die in zwei Sprachen singen,
beeindruckt mich. Sie führen die Welt damit zusammen, und das ist gut",
sagt sie mit einer pathetischen Ernsthaftigkeit, die so gar nicht zu
ihrem Bekenntnis passt, "unsterblich in Bill verliebt" zu sein.
"San Francisco is beautiful"Sänger Bill Kaulitz, 18, sehe aus wie eine japanische
Zeichentrick-Version von Christian Siriano - dem jüngsten Gewinner der
Talent-Show "Project Runaway", schrieb die "New York Times" im Februar.
Und fügte an, die US-Fans sollten bitte nicht für eine
"Goth-Punk-Boy-Band" durchdrehen, "angeführt von sexy Androgynen mit
spektakulär frisiertem Haar".
Warum eigentlich nicht? Immerhin bliebe es dann nicht mehr an Rammstein, das Deutschlandbild in den USA zu prägen.
Im Durchdrehen stehen die US-Fans den deutschen jedenfalls in nichts
nach. Als Tokio Hotel um kurz nach neun die Bühne betritt, bricht ein
ohrenbetäubendes Kreischkonzert los - als nähmen die Fans den
Albumtitel "Scream" wörtlich. Die Eltern, in nicht unbedeutender Anzahl
anwesend, wirken gequält und scheinen erst erleichtert, als ihre Kinder
dazu übergehen, jede Liedzeile mitzusingen.
Objekt der Hysterie ist - wie in Deutschland - Sänger Bill Kaulitz,
der die ersten drei Songs so routiniert wie wenig mitreißend
präsentiert. Erst nach dem dritten Lied begrüßt er das Publikum mit den
wenig einfallsreichen Sätzen "Hi everybody, how are you tonight?" und
"San Francisco is beautiful!"
Das bringt die Fans erneut zum Kreischen, zeigt aber auch, wie
ehrgeizig das Projekt der vier Jungs ist, in einer Sprache zu singen,
die nicht ihre Muttersprache ist.
Musik von Kindern für KinderAngeblich konnten sie bis vor einem Jahr noch nicht mal besonders gut
Englisch. Ihre Aussprache ist ziemlich hart, aus "eyes" wird "ice" -
aber die Fans scheinen das eher süß zu finden. Und nur darauf kommt es
ja an. Um Begeisterungsstürme auszulösen, reicht es sowieso, dass
Kaulitz sich ab und zu nach unten beugt und Hände berührt. Manchmal
streckt er sogar das Mikrofon ins Publikum, doch solche für größere
Hallen angelegten Gesten funktionieren im "Fillmore" nicht, dafür ist
der altehrwürdige Jazzclub zu intim.
Hier machen an diesem Abend einfach Kinder Musik für andere Kinder -
was ja nicht unbedingt schlecht ist, wenn Band und Fans damit glücklich
sind. Schade nur, dass weder die einen noch die anderen zu wissen
scheinen, wo sie sich gerade aufhalten.
Die Jungs hätten nur mit den Schultern gezuckt, als er sie darauf
aufmerksam gemacht habe, wo sie auftreten, sagt ein Mitglied der Crew.
Die meisten Fans bemerken die Hunderten Konzertplakate in den Vorräumen
des "Fillmore" nicht mal, die vier Jahrzehnte Musikgeschichte
repräsentieren.
Irgendwo dort wird bald auch eines von Tokio Hotel hängen, so will es die Tradition.
Nach knapp anderthalb Stunden ist das Konzert zu Ende. Ältere, die
noch andere Zeiten kannten, wundern sich. "So früh kann doch kein
Konzert zu Ende sein", knurrt der Taxifahrer. "Das war früher anders."
Vermutlich weiß er nicht, dass das Gesamtwerk von Tokio Hotel noch nicht wirklich für einen längeren Auftritt reicht.
Source http://www.spiegel.de/kultur/musik/0,1518,573151,00.html